Wie lassen sich neue Raumtaktiken entwickeln? Hier stellen wir ein paar methodische Herangehensweisen vor, von denen ihr Euch inspirieren lassen könnt. Die Liste der hier vorgestellten Projekte ist natürlich nicht im geringsten vollständig und darft gern von Euch ergänzt werden.
„Nicht die Kapsel an sich bietet diesen Raum, sondern diese gibt einen Anschwung, Raum draußen neu zu definieren und einzugrenzen.“
Kunstprojekt: “Would you like to participate in an artistic experience?”
Ich möchte euch ein partizipatives Kunstprojekt von Ricardo Basbaum vorstellen, das möglicherweise viel mit unserem Raum-Kapsel-Projekt zu tun hat bzw. uns Anregungen geben könnte.
Der Künstler aus Brasilien hat auf der Suche nach dem was er „Neue Grundlage für Persönlichkeit“ („New Basis for Personality“) nennt, ein simples zeichenhaftes Objekt in mehrfacher Ausführung gebaut (NBP object; siehe Bild).
Jeder, der interessiert ist, kann an dem Projekt teilnehmen.
Die Teilnehmer (Individuen, Gruppen oder Institutionen) entscheiden, sobald sie das Objekt in ihrer Verfügung haben, was sie damit tun, welchen Zweck es haben soll, wohin sie es ggf. auf eine Reise mitnehmen und wie sie ihre künstlerische Erfahrung dokumentieren möchten. Das Projekt ist radikal ergebnisoffen.
Spuren der jeweiligen Prozesse konnten auf die Webseite www.nbp.pro.br hochgeladen werden.
Zwei Beispiele, was u.a. mit dem Objekt passiert ist:
Projekt: Ligna Radio Ballett – Übung in nichtbestimmungsgemäßem Verweilen
Dokumentation einer Intervention, die 2003 im Leipziger Hauptbahnhof statt fand. Die Hörer des nichtkommerziellen, Leipziger Senders Radio Blau wurden dazu aufgefordert, am späten Sonntagnachmittag mit Radiogeräten und Kopfhörern in den Haup tbahnhof zu kommen.
Für 60 Minuten wurde über das Radio eine Choreographie ausgestrahlt, die zu normalen, verbotenen und verdrängten Gesten aufforderte. Ungefähr 500 Teilnehmer führten – verteilt über den Bahnhof und der angeschlossenen Shoppingmall – diese Gesten aus und bra chten damit an einen öffentlichen und zunehmend privatisierten Ort massenhaft das zurück, was die permanente Kontrolle aus ihm verdrängt hatte. Die Deutsche Bahn versuchte die Aktion zu verbieten. Es zeigte sich jedoch, dass ein Verbot gegen die zerstreute Assoziation der Hörer nicht durchzusetzen war. Kamera und Schnitt: Clemens von Wedemeyer/Arthur Zalewski (Radioballett Leipzig 2003). weiter …
Interview: Kollektive Zerstreuung Ligna experimentiert mit Formen der politischen Intervention
König, Anne u. a. (Hg.) 2010: LIGNA: an alle! Radio Theater Stadt. 1. Auflage, Leipzig: Spector Books.
Postdramatische Theaterformen
Postdramatische Theaterformen geben die Trennung von Theater und Gesellschaft, Schaupieler und Zuschauer auf und verstehen Thaeater als direkte Intervention in gesellschaftliche Verhältnisse. Das Politische ist hier nicht im Inhalt zu suchen, sondern in der „Form“ des Theaters, sprich im Aufführungsprozess. Es gibt „eine Verwandtschaft zwischen zeitgenössischen Theaterstücken und politischem Aktivismus: Beiden genügt es nicht, politische Missstände anzuklagen […]. Vielmehr versuchen sie, mithilfe konkreter Aktionen physisch und symbolisch in die realen Verhältnisse zu intervenieren. Die Intervention von Theater und Performance ist jedoch zu allererst eine ästhetische. Es geht mehr um eine veränderte Wahrnehmung, was auf Sinne und Körper der Zuschauer zielt. Die Selbstverständlichkeit bestimmter Funktionsweisen wird untergraben, ebenso die Polizei und Regierung im eigenen Kopf.“ (Deck 2011, S. 28)
Politik ist nichts, „was innerhalb der existierenden Verhältnisse gut funktioniert, sondern etwas, was gerade den Rahmen verändert, der festlegt, wie die Dinge funktionieren“ (Žižek 2010 [1999], S. 273). „Was aus der Politik selbst“ für Rancière „einen skandalösen Gegenstand macht, ist, dass die Politik die Aktivität ist, die als Rationalität selbst die Rationalität des Unvernehmens hat“ (Rancière 2007, S. 12). Als „Unvernehmen“ beschreibt Rancière den Prozess des Übertretens der Regeln, die bestimmen, was im Alltag unter Politik, Ökonomie und den ihnen zugehörigen Subjekten zu verstehen ist (vgl. ebd.).
Deck, Jan; Sieburg, Angelika (2011): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld: transcript.
Rancière, Jacques (2007): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. 2. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Žižek, Slavoj (2010 [1999]): Die Tücke des Subjekts, Berlin: Suhrkamp.
Es gibt zahlreiche spannende Beispiele postdramatischer Theaterpraxis:
Projekt: rimini protokoll – Call Cutta in a Box
Das Stück „Call Cutta in a Box“ der Performance-Gruppe Rimini Protokoll bringt die fragmentierten Geographien und Identitäten indischer Call-Center Dienstleister_innen und europäischer Service-User_innen in einen spannenden wie bewegenden Dialog und flüstert die Globalisierung direkt von ihrer Kehrseite her ins Ohr des Endverbrauchers zurück. Mehr zum Projekt hier, die gesamte Performance könnt ihr hier sehen.
Projekt: Institut für Alltagsforschung
Im Januar 2012 finden Passanten, deren Weg über den Karlsplatz führt, Geldbörsen. Was verloren worden zu sein scheint, erweist sich schnell als mit Absicht zurückgelassen – in den Geldbörsen findet sich ein kleiner Geldbetrag und ein Zettel. Dieser Zettel enthält eine Anweisung, was mit dem Geld zu tun ist: Es soll in eine Taxifahrt oder einen Kaffee investiert werden, um dem Wintertag einen Moment zu entkommen. Oder in ein Geschenkt für einen Freund, den man lange nicht gesehen hat – in jedem der vor und im Laufe der Ausstellung ausgelegten Portemonnaies findet sich eine andere Anweisung und mit ihr die Summe, die man braucht, um sie befolgen zu können. Das Projekt macht sich verschiedene (eher unerfreuliche) Eigenheiten des Alltags zu Nutze: Es lauert dem Alltag entlang der alltäglichen Wege auf, die im Allgemeinen dem Imperativ der Effizienz folgen – in der Hoffnung, den gewohnten Gang der Dinge einen Moment lang ins Stolpern bringen zu können. Zweitens operiert die Aktion mit dem Fakt, dass alltägliche Lebensqualität auch – und sogar ganz wesentlich – eine Geldfrage ist. Weiter …
Countermapping
Countermapping erstellt alternative Karten, die objektiv und subjektiv sein können. Sie dokumentieren verschüttete Möglichkeiten der Wahrnehmung oder bündeln Informationen, die für gewöhnlich nicht in Karten repräsentiert werden, wie z.B. diese Karte von New York, die die „Wege mit der geringsten Überwachung“ zeigt.
Psychogeographie
Guy Debord hat in seiner “Introduction to a Critique of Urban Geography” Psychogeographie als „the study of the precise laws and specific effects of the geographical environment, consciously organized or not, on the emotions and behavior of individuals” definiert. Psychogeographie ist also die experimentelle Erforschung der Umwelt und ihrer Auswirkungen. Es ist die Frage danach, welchen Einfluss die geographische Umgebung auf die Wahrnehmung, das psychische Erleben und das Verhalten hat. Psychogeographie ist aber auch ein Spiel, es geht darum unsere vorhersehbaren Pfade als Fußgänger_innen zu verlassen und uns Strategien zu überlegen, wie wir die städtische Landschaft erkunden. Es geht darum, das psychogeographische Relief, die Fixpunkte und Strömungen, die Ein- und Ausgänge von räumlichen Zonen zu erkennen. Psychogeographie ist Umherschweifen, ist Verlaufen, ist Aktion, ist das Sammeln von Dingen die man auf der Straße findet, ist das Einsteigen in eine U-Bahn, in den nächstbesten Bus und irgendwo aussteigen und ist das Löschen der üblichen Beweggründe um von A nach B zu gelangen, es ist das Achten auf das Gelände, die Tiere, den Müll in den Straßen. Weiter …
Mehr zur Situationistischen Internationalen gibt’s hier.
Adamek-Schyma, Bernd (2008): Psychogeographie heute: Kunst, Raum, Revolution? In: ACME – An International E-Journal for Critical Geographies 7 (3), S. 407–432. Hier geht’s zum Artikel
Projekt Studien zu Heterotopie, Nomadologie und Psychographie
Dérive
Ein wichtige Technik der Psychogeographie ist die „Dérive“. Das Erkunden einer Stadt durch zielloses Umherschweifen. Die Stadt kann in schnellerem Tempo, mit dem STadtplan einer anderen Stadt oder indem man immer nur einer Richtung folgt, neu erkundet werden. Ziel ist es bekannte Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen und sich „gezielt zu verlieren.“
Mehr zur Dérive verrät Euch Guy Debord, zentraler Vertreter der Situationistischen Internationale hier.
Détournement
Eine weitere wichtige Technik ist das „Détournement“, d.h. die Zweckentfremdung beispielsweise von Filmsequenzen, Fotos, Comicbildern, Gebäuden durch veränderten Gebrauch. Mehr zum „Détournement“ von Guy Debord und Gil J. Wolman könnt ihr hier lesen.
Es ist vor allem in Form von culture jamming und ad busting bekannt geworden.
Lexikon
Ein Lexikon mit weiteren Raumtaktiken von „advanced leafleting“ bis „trek“ findet ihr hier.
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Lexikon der Raumtaktiken
Hier stellen wir Projekte und Orte vor, die uns inspirieren.
Selbstorganisierte Räume, in denen mit neuen Formen des Zusammenarbeitens und -lebens, des Austausches und der Gestaltung experimentiert wird, in denen neue gesellschaftliche Formen ausgehandelt werden, in denen unsichtbare globale Verhältnisse umkehren und solche, in denen wir einfach gerne sein möchten.
Blaues Haus
Das Blaue Haus in Frankfurt zeigt exemplarisch, wie ein bestehender Raum umgenutzt und einer neuen, sozialen Bestimmung zugeführt werden kann.
Convertible Hinge
Mobile Aktivierung leerstehender Büroflächen als temporäre Arbeitsmöglichkeit für Kreative bzw. für temporäres Arbeiten und Wohnen
Cybermohalla / Cybermohalla Hub
Cybermohallas sind hybride, selbstorganisierte Kulturinstitutionen in Delhi an der Schnittstelle zwischen Community Center, Schule, Archiv und Kunsthalle; initiert durch Sarai (Programm des „Center for the Study of Developing Societies (CSDS)“ gemeinsam mit dem Raqs Media Künstlerkollektiv) und „Ankur“ (Society for Alternatives in Education). Gemeinsam mit den Architekten Hirsch/Müller enstand eine spezifische Architektur für die Labs.
Genossenschaft für urbane Kreativität
Kann es kreative Quartiere jenseits profitorientierter Stadtentwicklung geben?
Holzclub – Raum im Raum
Hier seht ihr wie Studierende der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach bei dem eine alte Fabrikhalle zu einer Veranstaltungslocation umfunktioniert haben. Die Fassade der Halle blieb unverändert, allerdings baute man einen „Raum im Raum“ ausschließlich aus Holzplatten. Das Prinzip „Raum im Raum“ könnte auch für unser Konzept interessant sein. Zumindest kann so ein Raum gänzlich neu gestaltet werden, ohne dass der neu entstandene Raum an die Wirkung des Raumes in dem er sich befindet angepasst werden muss.
Get rich, Ölhalle Offenbach
Institut für Alltagsforschung
Das Institut für Alltagsforschung untersucht die Räume des Alltags und eröffnet neue Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und Aneignung.
Lego-style apartment
Tolles Raumnutzungskonzept auf einer sehr kleinen Fläche.
Raumausnutzung eines kleinen Apartments
Messebetten
Provisorische Übernachtungsmöglichkeit auf einer leerstehenden Büroetage
Netzwerk X
Für Freiräume und ein Recht auf Stadt setzt sich das Netzwerk X im Ruhrgebiet ein. Der öffentliche Raum ist Gestaltungs- und Lebensraum. Er soll und darf bespielt werden. Leerstände drinnen und draußen sind rechtlich blockierte Räume. Blockaden überwinden, Leerstände beleben, auch im Denken…!
Open House Project
Als Antwort auf das rapide Städtewachstum, der sich in Korea im Bau von dichten Hochhaussiedlungen verköpert, und den damit einhergegenden Funktions- und Qualitätsverlusten von Stadtvierteln, entwickelte das raumlaborberlin im Projekt Open House gemeinsam mit der Bevölkerung der Stadt Anyeng (Korea) ein vertikales Dorf, das verlorene Qualitäten zurück in die Stadt bringt.
Orte möglichen Wohnens
Jakob Sturm beschäftigt sich bereits seit Jahren mit Orten möglichen Wohnens, Arbeitens und Zusammenlebens in der Stadt. Ein besonderes Interessse gilt ungenutzten oder selten genutzten Räumen.
Other possible worlds
Lexikon mit Entwürfen diesseits von Utopia findet ihr hier.
Placehacking
Wo sind die Grenzen der Stadt? – In seinem Projekt „Urban Explorer“ erkundschafttet der Photograph, Schriftsteller und Geowissenschaftler Bradley L. Garret die Ränder des Urbanen.
Pontonia
Ein schwimmendes Ponton dient 30 Jugendlichen aus aller Welt zur Erfoschung der Zukunft der Stadt und der Demokratie.
Universität der Nachbarschaften
„Wie zusammen leben?“ Diese Frage wird im „Hotel Wilhelmsburg“ im Rahmen der Universität der Nachbarschaften erforscht.
Xqm
erschloss spezifische, selten bewußt genutzte Bereiche im innerstädtischen öffentlichen Raum der Stadt Frankfurt für unterschiedlichste Projekte